Es gibt Themen, für die man im Lehramtsstudium nicht ausgebildet wird und die einen im Lehreralltag dann überrollen. So ging es mir, als ich das erste Mal mit dem Thema Depressionen in Berührung kam. Depressive Schüler habe ich bisher selten unterrichtet, wobei es in Zeiten von Corona sicher zunehmen wird. Ich teile heute einen Brief mit dir, den ich vor ein paar Jahren verfasst habe.


Liebe Schülerin,

mehrmals in der Woche sehe ich dich in meinem Unterricht. Du bist gut darin, dich zurückzunehmen und nicht aufzufallen. So sehr, dass ich mich nach dem Unterricht oft darin wiederfinde, wie ich überlege, ob du überhaupt da warst. Das macht mir schon ein schlechtes Gewissen, weil es mir vor Augen führt, dass ich achtsamer sein sollte. Vor allem mit dir. Ich weiß, dass du es nicht leicht hast.Manchmal sehe ich, dass es dir gut geht. Darüber freue ich mich dann. Ich erhalte in solchen Momenten einen kleinen Einblick in deine Persönlichkeit, wie sie eigentlich ist. Wie schön es für dich sein könnte.

Doch häufig ist es anders: Du lächelst deine Mitschüler an und ich sehe hinter deine Fassade. Eine Fassade, die du angestrengt aufrecht erhältst, um nicht aufzufallen. Wenn ich dich unter vier Augen frage, wie es dir geht, höre ich nie eine Klage. Ich glaube, du denkst, dass niemandem auffällt, wenn es dir insgeheim schlecht geht. Du überspielst es stets mit einem Lächeln im Gesicht. Doch du irrst dich. Ich blicke sehe dich und es macht mich traurig, dass du schon in so jungen Jahren solch eine Last mit dir herumträgst.

Ich habe dir schon oft meine Hilfe angeboten, denn durch deine Depression fehlst du häufig. Bisher hast du meine Angebote aber nicht angenommen und auch nicht die meiner Kollegen. Und so geht es langsam abwärts. Es ist dieser Teufelskreis aus dem Fehlen und dem Nicht-Mehr-Mitkommen im Unterricht, der immer belastender wird. Ich würde dir so gerne helfen, aus diesem Teufelskreis auszubrechen, doch mehr als meine Hilfe anbieten kann ich dafür nicht tun.

Auch nach dem Unterricht und nach meiner Arbeitszeit mache ich mir viele Gedanken über dich. Eigentlich mehr als es mir gut tut, das weiß ich wohl. Ich versuche, dir indirekt zu helfen, indem ich Gespräche mit deinen Eltern, der Schulsozialarbeit und meinen Kollegen führe, in denen wir besprechen, was wir für dich tun können. Damit du es nicht so schwer hast. Damit du entlastet wirst. Alles im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten natürlich. Gelegentlich telefoniere ich in meiner Freizeit oder am Wochenende mit deinen Eltern, wenn sich etwas ereignet. Dass das nicht meine Pflicht ist, weiß ich, aber ich tue es. Denn du und dein Wohl liegen mir am Herzen.

Ich fühle mich häufig fast schon ohnmächtig, weil ich so wenig tun kann. Ich würde mehr tun, wenn ich wüsste, was dir hilft. Bereits jetzt tue ich eigentlich sehr viel – aber offenbar das Falsche. Jedenfalls scheint es bisher nichts an der Situation zu ändern.

Doch ich gebe nicht auf.  Ich versuche weiterhin, dir einen Weg zu weisen und bleibe am Ball. Denn auch, wenn du es nicht siehst: Ich habe ein Auge auf dich.

Deine Lehrerin


Depressive Schüler – ist das ein Thema, mit dem du schon Berührungspunkte hattest? Ich freue mich über deinen Bericht, gute Tipps oder Literaturvorschläge.

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