Wer mich kennt, weiß, dass ich viel ausprobiere. Zuletzt sogar ungewöhnlich viel, weil ich einfach Lust drauf hatte. Manches davon gefällt mir, manches nicht so. Manches finden meine Schüler:innen toll, manches finden sie doof. So weit, so normal. Der Flipped Classroom ist in meinen Mathe-Kursen der Oberstufe ja schon fest etabliert. Was mir bisher aber gefehlt hat, ist eine sinnvolle Anknüpfung daran im Unterricht. Diese Anknüpfung liefert mir die Harkness-Methode.

Auf Mastodon bin ich dann über einen Post von Tim Kantereit gestolpert, der von der Harkness-Methode in seinem Unterricht berichtet hat. Das, was ich da gelesen habe, hat mich so fasziniert, dass ich es unbedingt selbst ausprobieren wollte. Und was soll ich sagen? Es funktioniert für mich in meinem Unterricht echt gut, da es toll zu meinem Unterrichtsstil passt. Und das Beste: Ich habe damit endlich einen Weg gefunden, das Growth Mindset, von dem ich bei Isabell Hollnack immer wieder gelesen habe, fest in meinem Unterricht zu etablieren.

Aber fangen wir von vorne an. Ich erzähle dir heute, was eigentlich dahintersteckt und wie mein Unterricht mit der Harkness-Methode aussieht. Das Feedback der Schüler:innen ist recht unterschiedlich – auch davon werde ich dir erzählen. Und natürlich, wie es damit weitergeht!

Was ist die Harkness-Methode?

Die Harkness-Methode bricht das übliche Unterrichtssetting vollständig auf. Die Lehrkraft ist nur noch begleitend tätig und befindet sich nur noch am Rande des Geschehens – im Idealfall wird sie gar nicht benötigt. Es geht vollständig um das kollaborative Problemlösen.

Grundlage für das Gelingen ist es, dass die Schüler:innen vorbereitet in den Unterricht kommen, um sich aktiv am Geschehen beteiligen zu können. Dadurch ist es aus meiner Sicht eine lohnenswerte Chance als Ergänzung des Flipped Classroom-Konzepts.

Die Gruppe bekommt eine oder mehrere Aufgaben vorgestellt, die sie gemeinsam lösen müssen. Dabei dürfen sie nur miteinander reden, sich gegenseitig in Ideen bestärken, auf Fehler aufmerksam machen, verschiedene Lösungswege durchdenken, Ergebnisse diskutieren, Fragen stellen und sie sich gegenseitig beantworten.

Die Lehrkraft sitzt außen vor und greift nur regulierend ein. Sie bleibt bestenfalls völlig untätig.

Wie läuft dann der Unterricht?

Im Unterricht selbst sitzen alle möglichst so, dass man sich gegenseitig anschauen kann und direkt miteinander sprechen kann. Aufgrund meiner Gruppengröße (21 Schüler:innen) setze ich auf eine U-Form der Tische. Die Schüler:innen bekommen eine oder mehrere Aufgaben, die in der Gruppe kollaborativ bearbeitet werden. Auch eine Auswahl aus Aufgaben habe ich schon eingesetzt.

Die Gruppe geht nun miteinander ins Gespräch. Es werden erste Ideen ausgetauscht, Fragen gestellt und diskutiert, Ansätze an die Tafel geschrieben, Geschriebenes wieder weggewischt und durch neues ersetzt. Es entstehen Pausen, in denen unklar ist, wie es weitergehen soll. Es kommt zu Diskussionen, die die Gruppe weiterbringen oder gegen eine Wand fahren. Es kommen weitere Ideen dazu. Aha-Momente. Lösungen und Teillösungen werden bei Unklarheiten nochmal erläutert, Fragen der Schüler:innen werden beantwortet und am Ende steht eine Lösung an der Tafel. Und die Frage steht im Raum, ob die Lösung wohl richtig ist.

Die Rolle der Lehrkraft

Ich sag dir eines: Die Situation ist am Anfang unglaublich ungewohnt. Ich bin ja nie der Typ „Alleinunterhalter“ im Unterricht gewesen., habe mich schon immer als Begleitung des Lernens angesehen. Dennoch ist dieses Setting eines, an das man sich gewöhnen muss.

Man neigt ja doch dazu, einzugreifen. Oder man möchte eine Frage, die im Raum steht, beantworten. Oder man stolpert über eine sprachliche Ungenauigkeit, die man unbedingt korrigieren möchte. Oder es stehen Fehler an der Tafel, die so nicht abgeschrieben werden sollen. Oder die Schüler:innen schauen einen fragend an, weil sie denken, sie schaffen es nicht ohne Hilfe. Ihr wisst, was ich meine?

Was ich dabei tue? Ich beobachte. Ich notiere mir auch viel: Wer hat sich wie am Geschehen beteiligt? Welche Fragen sind aufgetreten? Was möchte ich im Nachhinein nochmal aufgreifen? Mein Zettel ist danach immer voll.

Agieren der Lehrkraft im Unterricht

Für uns heißt es: Zusammenreißen! Wir neigen als Lehrkräfte häufig dazu, zu schnell zu agieren. Wir müssen bei dieser Methode ganz viel Vertrauen in unsere Schüler:innen setzen. Sie schaffen das! Sie schaffen das auch ohne uns. Denn das sind die Momente, in denen sie an ihrer Problemlösekompetenz arbeiten und wachsen.

Wenn man merkt, einzelne Schüler:innen beteiligen sich nicht, kann man durchaus einen Hinweis auf die Regeln des Settings fallen lassen. Auch kann man direkt Schüler:innen ansprechen und nach ihrer Meinung fragen: „Was denkst du dazu? Stimmst du dem zu, was gesagt wurde? Wenn ja, warum?“

Die Beteiligung der Schüler:innen am Prozess kann auf verschiedenen Ebenen passieren: Ideen geben, Lösungswege präsentieren, begleiten oder anschreiben, Fragen stellen, Ideen bestärken oder eine Idee anzweifeln, nach weiteren Erklärungen für das eigene Verständnis fragen. Eine – aus meiner Sicht – deutlich vielschichtigere Beteiligungsmöglichkeit als im normalen Unterricht.

Meine Beobachtungen

Das Vertrauen, das man in seine Schüler:innen setzt, zahlt sich aus! Diesen Prozess der Problemlösung zu beobachten, ist einfach unglaublich spannend. Zu sehen, wie aus Fragezeichen in den Gesichtern irgendwann Ausrufezeichen werden. Wie sich die Gruppendynamik entwickelt. Man sieht wortwörtlich dem Lernprozess zu.

Bisher konnte noch jede Aufgabe von meinem Kurs selbstständig gelöst werden. Und auch die wirklich komplexen, bei denen ich noch gezweifelt habe, ob das wirklich machbar ist. Am Ende findet sich immer ein Impuls der Gruppe, der alle voranbringt.

Natürlich ist die Idee, dass sich alle an dem Prozess beteiligen. Dass das in der Realität nur bedingt funktioniert, können sich alle denken. Das ist mein persönlicher Entwicklungsbaustein: Ich versuche gerade, den Prozess so anzupassen, dass wirklich alle einbezogen werden und teilhaben können. Auch diejenigen, die sich vielleicht noch nicht so trauen. Das ist mein aktueller Fokus im Einsatz der Methode.

Was meine Schüler:innen über Harkness denken

Dass solch eine Umgestaltung des Unterrichtssettings nicht nur auf Begeisterungsstürme trifft, ist klar. Sich nicht auf die Lehrkraft berufen zu können, sondern selbstständig und zusammen mit seinen Mitschüler:innen ein Problem lösen zu müssen, ist eine Herausforderung und einfach anstrengend. Fehler selbst erkennen zu müssen, um daraus zu lernen und daran zu wachsen, ist auch nicht von Natur aus jedermanns Sache.

Die Harkness-Methode ist deshalb etwas unbequem. Ein Unterricht, der derart auf selbstständiges Lernen setzt, passiert noch nicht so häufig. Es ist einfach ungewohnt, eine hohe Verantwortung für das Gelingen des Prozesses aktiv mitzutragen. Und natürlich tragen die Schüler:innen auch die Verantwortung für den eigenen Lernprozess: Frage ich aktiv nach, wenn ich etwas nicht verstehe? Bereite ich mich auf den Unterricht vor, wie es eigentlich vorgesehen ist?

Trotzdem empfindet der Großteil der Gruppe die offene Atmosphäre als angenehm und ist der Methode gegenüber weitestgehend positiv gestimmt.

Growth Mindset in der Praxis

Ich liebe die Idee des Growth Mindset, war aber immer recht ahnungslos, wie ich es sinnvoll etablieren kann. Die Harkness-Methode führt der gesamten Gruppe stets vor Augen, dass sie aus eigener Kraft etwas ganz Tolles erreichen können: ein komplexes Problem selbst lösen. Vielleicht geht man zwischendurch mal den falschen Weg, merkt es irgendwann und setzt nochmal neu an. Vielleicht braucht man auch richtig Hirnschmalz, um zum Ziel zu gelangen. Am Ende sehen aber alle, was sie aus eigener Kraft geschafft und erreicht haben.

Diesen Gedanken finde ich ganz wundervoll und werde auch nicht müde, zu betonen, wie beeindruckt oder stolz ich bin, wenn sie mal wieder ein Problem völlig ohne mein Zutun angepackt und gelöst haben.

Fehler und Versuche gehören zu dieser Methode ganz selbstverständlich dazu, was auch toll ist, um Fehler als Helfer im Lern- und Problemlöseprozess zu etablieren.

Ohne Regeln geht aber nichts.

Regeln für den Einsatz der Harkness-Methode

Angelehnt an Tim Kantereits Regeln habe ich sie teilweise übernommen, teilweise etwas angepasst:

  1. Höre anderen aktiv zu.
  2. Stelle höflich die Aussage eines anderen oder eines Ergebnisses in Frage.
  3. Trage dazu bei, dass alle die Lösung des Problems verstehen.
  4. Stelle alternative Lösungen oder Ideen zur Diskussion.
  5. Vermeide Monologe, Dialoge und Gespräche von Einzelpersonen.
  6. Achte darauf, dass nicht wenige Schüler:innen die Phase dominieren.
  7. Stelle eine Verbindung zwischen Ideen, Gedanken, Aspekten oder Sachverhalten her.
  8. Sprich Unterrichtsteilnehmer:innen direkt an, um sie einzubeziehen.
  9. Stelle eine Frage oder bitte um Erklärung.
  10. Stelle direkte Fragen, die die Diskussion voranbringen.
  11. Bekräftige die Aussage einer Mitschülerin oder eines Mitschülers.
  12. Komme auf eine Aussage, die früher gemacht wurde, zurück.

In Teil 2 meiner Reihe zu Harkness wird es um mögliche Aufgaben für den Einsatz der Methode gehen. Ich konnte mich schon überzeugen, vielleicht hast du aber Fragen zur Harkness-Methode? Hinterlasse sie mir gerne in einem Kommentar.

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